MEIRION BOWEN - Das Fidelio Projekt

Eine neue Version von Beethovens Fidelio

Von der Broomhill Opera Company in Kent, Großbritannien, in Auftrag gegeben, wird die Premiere in Co-Produktion mit Opera Africa in Durban im April 1999 stattfinden. Daran wird sich eine Tournee durch Großbritannien und Europa anschließen.

Im August-September 1997 präsentierte die Broomhill Opera am Christ's Hospital Theatre in Sussex und am Tyne Theatre in Newcastle-upon-Tyne Workshop-Aufführungen des Eingangsmarsches und der 1. Szene, unter Verwendung dreier speziell dafür in Auftrag gegebenen Libretti in Englisch, Afrikaans und Zulu.

Diese Fidelio - Version ist der Erinnerung an Sir Michael Tippett gewidmet (1905-1998).

 

Das Fidelio - Projekt

 

Vorliegendes Projekt stellt ein neue Konzeption von Beethovens Fidelio dar, das der Oper erlauben würde, verschiedene Formen an verschiedenen Orten anzunehmen. Es besteht aus fixen und variablen Elementen, in denen die Details der Handlung sich viele Male erneuern. Dadurch könnte Fidelio einem neuen Publikum in der ganzen Welt nähergebracht werden.

Beethovens Fidelio gehört zum Genre der 'Befreiungsopern', die in Frankreich nach der Revolution entstanden und von dort nach Italien, Deutschland und Österreich gelangt sind. In ihrer dritten und letzten Fassung (1814) war die Oper ein großer Erfolg und wurde bald von Opernhäusern in Deutschland aufgenommen. In den folgenden fünfundzwanzig Jahren erreichte Fidelio Prag, Sankt Petersburg, Amsterdam, Paris, London und New York und blieb eines der populärsten und höchst angesehensten Werke des Opernrepertoires. Die Handlung: Eine als Mann verkleidetete Frau befreit unter heroischem Einsatz ihren Ehemann aus ungerechter politischer Haft und rettet ihn somit vor dem sicherem Tod. Dadurch veranlaßt sie auch die Befreiung anderer politischer Gefangener und die Verurteilung des tyrannischen Gouverneurs. In Hinblick auf all die Kriege, Revolutionen, die kollektive Intoleranz und die Verfolgungen, die in unserer Welt seit 175 Jahren herrschen, ist es nicht verwunderlich, daß eine Oper mit solch einem Thema zum Symbol für Widerstand gegen Tyrannei wurde. Die Musik zu Fidelio, so stark und erinnerungswürdig, läßt jedoch eine noch weitere Palette von Anwendungen vermuten.

Die meisten Bühnenaufführungen von Fidelio behielten entweder den historischen Kontext bei (also den Bezug auf Ereignisse zur Zeit der Französischen Revolution), oder sie gaben dem Werk einen modernen Anstrich, indem sie es zum Beispiel mit den Geschehnissen des Holocaust in Bezug brachten. Alle diese Inszenierungen verstehen unter Gefangenschaft politische Gefangenschaft. Wenn wir aber Michel Foucaults Theorien in Betracht ziehen, können wir den Begriff 'Gefängnis' auch aufs psychologische und philosophische Gebiet ausdehnen.

Immer voll Respekt für die Kraft von Beethovens Musik können Handlung und Dialog in einer Weise 'wiedererfunden' werden, durch die Bezüge zu vielen verschiedenen sozialen, rassischen, politischen und psychologischen Kontexten hergestellt werden können.

Vorliegendes Konzept nimmt Rücksicht darauf, daß es nicht nur eine, möglicherweise lokalisierte Form der Interpretation von Fidelio geben kann, sondern eine Vielfalt neuer Fassungen. Diese neuen Versionen könnten sogar von einer kleinen Touring-Company produziert werden, gedacht als eine Art United Nations 'task force', die sich dazu bekennt, daß Fidelio überallhin und zu jedermann und jederfrau gehört. Die Konsequenzen davon sind:

1) Handlung und Dialog müßten mehrere Male neu geschrieben werden, je nachdem in welchem Land oder in welcher Region getourt wird und rücksichtnehmend auf die Art der nationalen oder lokalen Probleme, auf die sich das Stück bezieht. Aufführungen würden in verschiedenen Sprachen und Dialekten stattfinden. Auch könnten den Charakteren neue Namen gegeben werden.

2) Einer neuer Titel muß gefunden werden, um dieser konstanten Neuerstehung des Stückes Rechnung zu tragen. "Fidelio Mobil" - oder "Mobile Fidelio", "Mobile Fidelity", auf englisch und "Fidelité mobile", auf französisch - vermitteln eine Idee vom Charakter des Unternehmens.

3) Einige Striche und Umstellungen der einzelnen Nummern müßten vorgenommen werden, um sowohl der Natur einer Touring-Produktion Rechnung zu tragen als auch der Mischung von fixen und ständig neu zu formulierenden Elementen.

4) Die Musik müßte (i) von einer Gruppe Solisten, die auch Chorfunktion übernehmen können und (ii) von einem kleinen Instrumentalensemble getragen werden. Dies wäre für kleinere Aufführungsorte angemessener und sowohl für Freiluft- als auch für unter-Dach-Aufführungen geeignet.

5) Alle Teilnehmenden sind als mobil gedacht und sollten in der Lage sein, mehr als eine Rolle zu übernehmen: so sollten die Instrumentalisten nicht einfach nur im Orchestergraben spielen, sondern sie können, gemeinsam mit dem Dirigenten und den Sängern, mit den Veränderungen des Bühnenbilds helfen und als Ordner fungieren, im Chor mitsingen, Programmzettel verteilen, etc, und dadurch zu einer integrierten Performance beitragen. Es handelt sich darum, die Handlung so umzuformulieren, daß sie sowohl vom Publikum in Bosnien, Irland, Südafrika, Vietnam, den Philipinen und Sao Paolo, als auch von Gefängnisinsassen und Patienten von psychiatrischen Anstalten als mit direktem Bezug zu ihren täglichen Erlebnissen empfunden wird. So wird Beethovens humanistische Umarmung auf sie alle ausgedehnt.

Eine Neuschreibung des Dialogs ist eine einleuchtende Notwendigkeit, da das Original-Deutsch steiff und altmodisch ist und mit seinem melodramatischen Gehabe ein Hindernis für jede Inszenierung darstellt. Ohnehin wenige Produktionen verwenden das Libretto oder die Regieanweisungen im Originalzustand.

Die Musik auf ein kleineres Ensemble umzulegen ist eine schwierige bis unmögliche Aufgabe, speziell in Hinblick auf Beethovens Schreibweise für obligato Holzbläser. Wer aber Erfahrung mit Amateur- oder halb-professionellen Kammerorchestern hat, wird wissen, daß der Sinn und die Ausdruckskraft von Beethovens Musik nicht von der Größe des Orchesters abhängig sind.

Fidelio war die letzte von drei Versionen des Leonoren-Stoffes. Da in allen diesen Versionen Nummer gestrichen und umgestellt wurden und die Partitur um einige musikalische und dramatische Elemente bereichert wurde, sollten die hier vorgenommenen Veränderungen der Oper nicht als Respektlosigkeit aufgefaßt werden, sondern vielmehr als eine logische Weiterentwicklung der ihr zugrundeliegenden Prinzipien.

Meiner Ansicht nach können am zweiten Akt keine Striche und nur wenige Umstellungen vorgenommen werdern. Die Struktur des ersten Aktes ist aber durchaus verbesserungswürdig, sodaß die Nebenhandlung mit Jacquino-Marzellina nicht am Beginn, sondern erst später eingeführt wird.

Die vier Ouverturen, die Beethoven für die Oper geschrieben hat, sind in Wahrheit brilliante Konzertstücke, die das Ende des Stückes auf eine Weise einschließen und vorwegnehmen, durch die einer Theateraufführung ihre Wirkung genommen wird. Mein Vorschlag ist daher, keine davon zu verwenden, sondern stattdessen die Sänger mit dem Marsch (Nummer 6 in der Partitur) einzuführen; dieser kann dann wieder verwendet werden, um die erste Szene einzurahmen, und vielleicht auch am Ende des ersten Aktes, Beginn des zweiten Aktes und am Ende der Oper, in verschiedenen Instrumentationen, jedesmal wieder als ein Mittel, um die Sänger auf und von der Bühne zu bringen.


Mein Plan für den ersten Akt ist daher wie folgt:


1. Szene:

1. Marsch
2. Roccos Arie (bisher No. 4)
3. Terzett: Marzelline, Leonora, Rocco (No. 5)


2. Szene:

5. Pizarro: Arie mit Chor (No.7)
6. Leonoras Arie (No. 9)


3. Szene:

7. Duet: Jacquino und Marzelline (No. 1)
8. Arie Marzelline (No. 2)
9. Quartet: Marzelline, Rocco, Leonora, Jacquino (No. 3)


4. Szene:

10. Finale (wie im Original)
11. Marsch

(Diese Umstellungen ziehen auch die Tonartenbeziehungen der einzelnen Nummern in Betracht. Wenn die sonst verwendete Ouverture in E-Dur durch den Marsch in B-Dur ersetzt wird, schließen sich Roccos Arie etc. in logischer Folge an.) Instrumentation:


1 Flöte
1 Oboe
1 Klarinette
1 Fagott
3 Hörner
2 Trompeten
Schlagwerk: Pauken/Glockenspiel
3 Geigen
2 Bratschen
1 Violoncello
1 Kontrabaß
Synthesiser (für das Holzbläser - Tutti)
Elektro - Gitarre
Elektro- Baß

[Ein Holzbläser auch Harmonika, in der dritten Fassung des Marsches.] Gesamtzahl: 19 Musizierende [Mehr Streicher können je nach Bedarf hinzugefügt werden.]

Die Verwendung der Elektro-Gitarren ist nicht eine überflüssige Floskel, sondern stellt eine moderne Version des rustico - Elements in Beethovens Stil dar. Die Gitarren sind auch mit den Gefangenen assoziiert, sowohl als Individuen, als auch als Chor.

Fidelio ist für manche ein unberührbares Meisterwerk. Die hier vorliegende Fassung hat nichts gemein mit "der Mona Lisa einen Schnurrbart aufmalen", oder Beethovens Fünfter Synthesiser-Rhythmen aufpressen. Das Projekt ist nur insofern drastisch, als daß es eine leere Bühne als seinen Anfangspunkt nimmt. Es zielt ab auf eine gänzlich integrierte Opernaufführung, die den glühenden und herausfordernden Geist seines Schöpfers widerspiegeln soll und verhindern soll, daß Fidelio das Alleineigentum eines aufgeklärten und selbstzufriedenen Bürgertums wird.


© Meirion Bowen (1998)
Übersetzung: Gwendolyn V. Tietze

 

 

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