Kurt Weill: Zaubernacht (Magic Night)

Zaubernacht war Kurt Weills erste Theaterkomposition, die auch tatsächlich zur Aufführung kommen sollte. Es war auch sein erstes Auftragswerk. Ursprünglich als Kinderpantomime für die russische Balletttruppe am Theater am Kurfürstendamm in Berlin entworfen, wurde es dort am 18. November 1922 zum ersten Mal aufgeführt: der Dirigent war George Weller, der Regisseur Franz-Ludwig Hörth, die Choreographin Mary Zimmermann (aus deren Schule die Tänzer und Tänzerinnen stammten). Elfriede Marherr-Wagner von der Staatsoper unter den Linden sang das Lied der Fee, das auf die Instrumental-Einleitung zum Ballett folgt. Im Publikum waren bei der Premiere Weills Lehrer Busoni und der expressionistische Bühnenautor Georg Kaiser, der bald einer von Weills bedeutendsten Mitarbeitern werden soltte. Die drei Aufführungen des Balletts fanden alle am Nachmittag statt und hatten nur geringe Resonanz in der Presse, obgleich drei kurze Kritiken erschienen, die wohlwollendste von ihnen im Berliner Börsen-Courier. Drei Jahre später wurde Zaubernacht das erste von Weills Werken, das in den USA aufgeführt wurde: Ende 1925 wurde es in New York als Magic Night vorgestellt.

Das Szenarium - yom Choreographen Wladimir Boritsch vertasst - ist verloren gegangen. David Drew hat folgende Skizze aus Presseberichten und Anmerkungen im Klavierauszug zusammengestellt.

"Sobald 'das Mädchen' und der Knabe einschlafen, tritt die Fee auf und singt íren Zauber. Eines nach dem anderen werden die Spielsachen und die Figuren aus íhren, Geschichtenbüchern lebendig. Gieichzeitig werden die Kinder selbst in eine Phantasmagorie eingebunden, wo zum Beispiel Andersens Zinnsoldat Hänsel und Gretel erretten hilft. Am Ende wird die Hexe von der versammelten Gesellschaft gejagt und schliesslich beseitigt. Die Fee verschwindet darauf, die Kinder sinken zurück in einen traumlosen Schlaf, und ihre mutter kompt auf Zehenspitzen ins Zimmer, um die Vorhänge zuzuziehen".

(Aus David Drew, Kurt Weill: A Handbook, London 1987, S.137)

Zaubernacht wurde niemals veröffentlicht und die ursprüngliche Orchesterpartitur und Aufführungsmaterialien (in Boritschs Besitz) sind verloren gegangen. Alles was wir besitzen ist ein handschriftlicher unvollständiger Proben-Klavierauszug.

Das ursprüngliche Ballett ist ein persönliche Werk. In einen Aufsatz, Bekenntnis zur Oper, der in Blätter der Staatsoper, Dresden, 1926 zum Zeitpunkt der Premiere seiner Oper Der Protagonist erschien, kommentierte Weill die Ertahrung, die er aus der Komposition der Zaubernacht gewonnen hatte, folgenderrnassen:

"...An der geballten Konzentriertheit russischer Theaterkunst lernte ich zweierlei: dass die Bühne ihre eigene musikalische Form hat, deren Gesetzmässigkeit organisch aus dem Ablauf der Handlung erwächst, und dass Bedeutsames szenisch nur mit den einfachsten unauffälligsten Mittein gesagt werden kann. Ein Orchester von neun Mann, eine Sängerin, zwei Tänzerinnen und eine Anzahl von Kindern - das war der Apparat dieses getanzten Traumes"
Ein halbes Jahr nach der Prerniere arrangierte Weill von dem Ballett eine viersätzige Suite für Orchester; diese wurde erstmals im Juni 1923 in Dessau aufgeführt und von der Universal Edition zwei Jahre später als Quodlibet: Vier Stücke aus einem Kindertheater für grosses Orchester herausgegeben. Die Suite erlebte zahlreiche Aufführungen unter führenden Dirigenten wie Felix Weingartner, Alexander von Zemlinsky und Jascha Horenstein. Sie verlangte ganz klar eine andere Abtolge der musikalischen Ideen als die des ursprüngiichen Balletts, wo bühnenspezifische Überlegungen deutlich die musikalische Entwicklung bestimrnen halfen.

Der erhaltene Proben-Klavierauszug der Zaubernacht belauft sich auf 68 eng beschriebene Manuskriptseiten, mit sehr spärlichen Detailangaben zur Instrumentierung und Aufführung. Obgleich die Musik ohne Pause abläuft, gliedert sie sich in sich 39 Zwischensätze unterschiedlicher Länge, wobei sich eine Gesamtlnge von ca. 50 Minuten ergibt. Die Einleitung (St¨ück [1]) erzeugt eine verträumte Stimmung, die ebenso wie die Tonart E-Dur am Ende des Balletts wieder hergestellt wird. Das Lied der Fee (f2]) bringt danach die Spielsachen zum Leben, wodurch die dramatische Handlung eingeleitet wird. Aus den bruchstückhaften Informationen, die wir besitzen, ist es unmöglich, die Handlung in allen Einzelheiten zu rekonstruieren. Aber die Musik als solche hat eine Bandbreite an Tempo, Stil, Charakterisierung und Emphase, dass Choreographen kein Problem haben dürften, angemessene Umsetzungen für die Bühne zu schaften.

In die Partitur integriert ist eine Anzahl selbstständiger StUcke. Aut den Gesang der Fee folgt ein Zwischensatz der Verwandlung ([3]), der auf einen langsamen Walzer hinführt. Die persönlichsten Momente leuchten auf, wenn Weill Zitate seines eigenen Streichquartetts in h-Moll (1918) aufnimmt: hier zunächst als Zwischenspiel ([83), tauchen sie dann später ([13]) als Rahmen um einen Foxtrott wieder auf.

In der Mitte des Werkes gibt es einen ausgedehnten Walzer, der in dieser Rekonstruktion die Harfe in den Vordergrund stellt ([10]). Ein metrisch freier Abschnitt ([14]3 weist bedeutende Soli fur Rote, Fagott und Klarinette auf. Er wird eingeleitet von einer kurzen Passage, in der bestimmte Soli für Flöte, Fagott und Klarinette auf. Er wird eingeleitet von einer kurzen Passage, in der bestimmte Takte in der Partitur mtt "An-die-Tür-Klopfen" gekennzeichnet sind. (Es wurde, im Klaus-von-Bismarck- Saal in Köln, bei dieser Aufnahme eine echte Türe benutzt!)

Zwei Marsche, einer langsam ([15]), der andere "streng" ([17]) bilden den Rähmen für einen wilden, aggressiven Can-Can ([16]). Ein ausgedehntes Allegro molto ([18]), dessen sperriger Neoklassizismus an den frühen Hindemith erinnert, führt in einen langen Walzer ([19]) hinein. Dieser macht, nach einer kurzen Überleitung einer Gavotte ([21]) Platz, deren Unbeschwertheit durch das plötzliche Einbrechen eines schnellen Zwischenspiels zerstört wird ([22]), das immer eiliger auf den dramatischen Höhepunkt des ballets zusteuert. Nach und nach wird dann die Stimmung des Beginns wiederhergestellt.

Das Werk als Ganzes scheint sowohl alles, was Weill zu diesem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere erreicht hatte, greifbar werden zu lassen, als auch wesentliche Fingerzeige in Richtung der musikalischen Ausdrucksweise einzuschliessen, die er sich später zu eigen machen sallte. Seine Beherrschung der Struktur und sein Sinn für Proportionen sind hier schon erstaunlich gut entwickelt. Bei der Erstellung dieser Rekonstruktion schien es mir daher, dass mein oberstes Ziel sein sollte, dieses Werk nicht bloss als musikwissenschaftliche Kuriosität wiederzubeleben, sondern ihm auch einen Platz im festen Repertoire zu geben. Dieses Ziel zu erreichen erforderte eine Reihe richtungsweisender Entscheidungen.

Kürzungen

Bei der Transkription und Orchestrierung des Proben-Klavierauszugs habe ich verschiedene Abschnitte rekonstruiert, die durchgestrichen, dann aber mit "behalten" gekennzeichnet sind.

Es gibt auch eine Anzahl anderer Streichungen, die man ursprünglich vietleicht oder vielleicht auch nicht beaehtet haben mag. lch hielt es für sinnvoll, die meisten von ihnen als Optionen für die Choreographen und Direktoren der Bühnenaufführungen aufzunehmen. Bei sehr geringfügigen Kürzungen oder Streichungen bin ich einfach nach editoriaten Gesichtspunkten vorgegangen.

Die Seiten 65 und 66 des 68-seitigen Proben-Klavierauszugs sind verschollen. Was hier als Ersatz erscheint, stammt (a) aus vorangegangenen Stellen im Ballett und (b) aus der entsprechenden Einfeitung zu Seite 67, die im Quodlibet zu finden ist. Ich gehe davon aus, dass sie hinreichend hervorgehoben sind, um dem Choreographen/Direktor angernessene dramaturgische Möglichkeiten für Stufen des Finale zu eröffnen.

Ich bin Hannah Vlcek und Gwendolyn Tietze sehr zu Dank verpflichtet dafür, dass sie den Text des Feenliedes in einer freien Übersetzung ubertragen haben. Auch ihre Aufgabe war nicht gerade leicht, da die Handschrift in der Partitur, selbst auf vergrösserten Kopien, einige ihrer Geheimnisse nicht preisgeben wollte.

Anmerkungen zur Instrumentation

1) Meine lnstrumentierung folgt der Zusammenstellung für Sopran und Nonett, die in David Drews Weill Handbook gegeben wird, zuzüglich einer Klarinette. Denn es zeigte sich bald, dass die Flöte und das Fagott in diesem Zusammenhang nur einen sehr eingeschränkten Beitrag leisten konnten. Darüber hinaus gab es für mich an einigen Stellen des Proben-Klavierauszugs deutliche Hinweise darauf, dass eine Ktarinette geplant war: eine aussagekräftige Stelle ist die kurze Kadenz bei Takt 981-2. Schon von Anfang an gibt es tatsächlich vieie Soli, für die die Klarinette wunderbar geeignet ist, jedes andere Instrumente dagegen umso weniger. Mit der Verstärkung einer Klarinette können die Holzblaser einen lebendigeren Beitrag leisten, weil sie harmonisch voffendete Gegenpole zu den Streichern schaffen und ausserdem eine grossere Bandbreite passender Soli und Ouette bieten. Im Buhnenkontext - und dorthin gehört das Werk - böte diese Version der Musik den Tänzern und Tänzerinnen und dem Choreographen/der Choreographin rnehr Möglichkeiten.

2 )Obwohl dies nichi ausdrücklich irn Proben-Klavierauszug angemerkt ist, habe ich der Flöte eine Verdopplung durch die Piccolo-Flöte zugestanden, da sie die Ausführung hoher Passagen ermgticht und manchmal eine bessere Ausgewogenheit erzeugt.

3) Das Schlagwerk ist auf einen Musiker begrenzt, lässt sich aber oft von Weills eigenem Arrangement des Schlagwerks in Quodlibet inspirieren. Die Instrumentierung, die ich verwendet habe, ist folgende: Pauken, Glocken, Glockenspiel, Triangel, Basstrommel, Jazz-Satz (Schnarrtrommel, Becken, Basstrommel mit Fusspedal, Holzblock) und grosser Gong.

4) Bei den Abschnitten, die Weill später in seine Orchestersuite Quodlibet aufnahm, bin ich seinem Beispiel gefolgt. ln gleicher Weise bin ich zur Originalquelle bestimmter Abschnitte in seinem Streichquartett in h-Moll (1918) zurückgekehrt. Natürlich musste ich gelegentlich, da die Quellen, die ich benutzte, Unterschiede aufwiesen, für die Ausarbeitung bestimmter Passagen neue Wege finden: doch wo auch immer es möglich war, habe ich Weills Vor- gehensweise in diesen beiden Werken widergespiegelt.

5) Bei der Rekonstruktion der fehlenden Seiten am Ende des Werkes habe ich die Musik der vorletzten Seite genau in der Weise nach vorne ergänzt, wie sie im ersten Satz des Quodlibet erscheint; und davor habe ich ein früheres kurzes Zwischenspiel im Ballett wiederaufgenommen, das Weill auch in seiner Orchestersuite verwendet hatte. Die Ehrlichkeit der Partitur in dieser Version solfte somit sichtbar sein.

Diese Rekonstruktion der Zaubernacht wurde vom Westdeutschen Rundfunk Köln für die Musik Triennale Köln in Auftrag gegeben und erstmals am 1. Juni 2000 im Klaus-von-Bismarck-Saal durch Ingrid Schmithusen (Sopran) und das Ensemble Contrasts unter der Leitung von Celso Antunes aufgefuhrt. Die Choreographie stammte vom TanzForum, dem Choreographen Jochen Ufrich und dem Designer Stefan Weinert.

LIED DER FEE

Etwas bewegt


Mein Spielzeugvolk muss sein am Tage starr und stumm,
Als kenne es keine Pein und keiner Stadt Gesumm,
Bis ich zur Mitternacht dann breche seinen Bann,
Beschwöre leis und sacht, hauch allen Leben an.


Das Starre dann sich regt, das Müde sich bewegt,
Was stumm beim Taggebraus, lärmt fröhlich dann durchs Haus,
Es geistert und es lebt, wie Elfenreigen schwebt,
An frohem Spiel und Scherz erfreut sich nun des Spielzeugs Herz.

Bedeutungsvoll


Ihr seid nicht stumm wie Stein lebendig müsst ihr sein.
Dann kommt mit mir sogleich ins weite Zauberreich,
Die Spielzeugfee bin ich, wer sah am Tage mich?
Doch unterm Sternezelt ist mein die schöne Welt


Das Spielzeugvolk es hört, wenn meine Stunde schlägt,
Wie es mein Wört beschwört und hin zum Leben trägt.
Das Blut es kreise sacht, nicht lange Euch besinnt
Und, eins, zwei, drei erwacht, das Leben nun beginnt.

 

 

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